V. Damm u.a. (Hrsg.): Historische Grundlagen der mobilen Gesellschaft

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Titel
Historische Grundlagen der mobilen Gesellschaft. Technologien der Verkehrslenkung und drahtloser Information auf Straßen und Wasserwegen in Europa


Herausgeber
Damm, Veit; Henrich-Franke, Christian
Reihe
Historische Dimensionen Europäischer Integration
Erschienen
Baden-Baden 2023: Nomos Verlag
Anzahl Seiten
304 S.
Preis
€ 69,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Peter Itzen, Historisches Seminar, Universität Freiburg

„Superstau“ ist der Name einer Klamauk-Komödie aus dem Jahr 1991 – der Film karikiert die Realität jener mobilen Gesellschaft, die in der „Goldenen Ära“ entstanden war. Tatsächlich war in diesen Jahrzehnten der Nachkriegszeit nicht nur der „Traum vom guten Leben“ wahrgeworden1, sondern auch der Alptraum der Rushhour und des Urlaubsstaus als neues Phänomen und Problem des (im-)mobilen Wohlstandsalltags im europäischen Westen. Die besorgte Nachfrage: „Bist Du gut angekommen?“ gehörte ebenso dazu wie die verärgerte Antwort: „Ich stand mehrere Stunden im Stau.“ Mit dieser Verkehrsgeschichte und den einschlägigen Störungen sowie mit Strategien, durch „Verkehrslenkung“ Abhilfe zu schaffen, setzt sich der von Veit Damm und Christian Henrich-Franke herausgegebene Band „Historische Grundlagen der mobilen Gesellschaft“ auseinander. In den Mittelpunkt stellen Herausgeber und Autoren (bis auf Katja Berg sind es Männer) nicht eine Erfahrungs- und Wahrnehmungsgeschichte, sondern eine Geschichte der Forschung und Infrastruktur. Das lässt einige Aufsätze zunächst etwas technisch und speziell erscheinen – die verschiedenen Standards der Verkehrsfunktechnologie wie RDS (Radio Data System) und TMC (Traffic Message Channel) finden sich immer wieder ausführlich thematisiert –, aber die Lektüre des Bandes lohnt. Der Rezensent war jedenfalls dankbar dafür, einmal nicht nur im Stil des graumelierten Cultural Turn dargestellt zu bekommen, was in Feuilletons über solche Entwicklungen gedacht wurde, sondern worum es sich bei diesen Techniken eigentlich handelte und worin ihre Bedeutung für gesellschaftliche Entwicklungen bestand.

Dabei interessieren sich die Herausgeber und Verfasser vor allem für drei Komplexe: für die Rekonstruktion von Forschungen und Entwicklungen zum autonomen Fahren, für die Geschichte des Verkehrsfunks sowie für Europäisierungsansätze der Verkehrssteuerung. Die europäische Perspektive bleibt dabei weitgehend auf West- und Mitteleuropa begrenzt. Das allerdings erklärt sich nicht nur forschungspraktisch, sondern auch durch die Frage des Bandes, wie grenz- und regionenübergreifende Verkehrsinformation möglich war – eine Aufgabe, der sich Standardisierungsausschüsse der Europäischen Rundfunkunion widmeten. Auch wenn die Herausgeber durch inhaltliche Gruppierung der dreizehn Beiträge (plus Einleitung) dem Band eine innere Struktur zu geben versuchen, macht das Resultat auf den ersten Blick einen recht heterogenen Eindruck: Neben konzeptionellen Grundüberlegungen von Jens Ivo Engels und Christian Henrich-Franke (mit sehr instruktiven Ausführungen zu den Wirkungsweisen von „Pfadabhängigkeiten in Verkehrssystemen“) und einigen überaus lesenswerten geschichtswissenschaftlichen Studien (etwa von den beiden Herausgebern oder von Gian Marco Secci) finden sich (unter anderem) Texte, in denen aus ingenieurswissenschaftlicher oder journalistischer Sicht prägnant-positivistisch die Geschichte technischer und medialer Entwicklungen dargestellt wird, aber auch ein Interview mit einem Veteranen des Verkehrsfunks (Gerhard Bogner vom Bayerischen Rundfunk2), ein anschaulicher Bericht Manfred Griegers über die Entwicklung der „Fahrzeugkommunikation am Beispiel von Volkswagen“ sowie ein stärker politisch anmutender Text von Weert Canzler, in dem dieser der Frage nachgeht, wie die Wahrscheinlichkeiten für eine künftige umfassende Verkehrswende einzuschätzen sind. (Canzler betrachtet die Chancen dafür übrigens als recht positiv. Inzwischen seien die Voraussetzungen gegeben, um neue Narrative zu setzen, die sich weniger am Statussymbol einer „Rennreiselimousine“ orientierten, sondern an den Debatten über Lebensqualität, Klimaschutz und Digitalisierung. Die technischen Entwicklungen der vergangenen Jahre sieht Canzler dabei als disruptive Momente, die das Potential zu solchen Veränderungen geschaffen hätten.)

Angesichts dieser inhaltlichen und formalen Komplexität des Bandes liest man die strukturierende, zusammenfassende Einführung der beiden Herausgeber gern und mit Gewinn. Sie betonen unter anderem die technischen Begrenztheiten und Pfadabhängigkeiten, die Entwicklungskorridore öffneten und schlossen, die Rolle von Expertengremien, die Standards festsetzten und damit Voraussetzungen für eine Europäisierung von Verkehrsinformationsdiensten schufen, den Einfluss gesellschaftlicher Mediennutzung für die Verbreitung von Verkehrsfunk- und Verkehrssteuerungssystemen sowie die Debatten um die (anfänglich zum Teil legendär geringe) Zuverlässigkeit von Verkehrsinformationen.

Daneben bieten die einzelnen Beiträge oft noch faszinierende Zusatzbefunde. So schildert Gian Marco Secci die Geschichte der Debatten um autonomes Fahren, die bereits in den 1920er-Jahren einsetzten. Secci unterstreicht die Bedeutung des Wandels von einem Lenkungsmodell, in dem das Automobil durch in die Straßen und die Infrastruktur verbaute Technik gesteuert wurde, zum heutigen Ansatz idealerweise autonom agierender und vernetzt handelnder Fahrzeuge. Als Akteure erscheinen dabei zunächst Fahrzeugkonzerne, die Zukunftsvisionen chaosfreien Fahrens entwickeln, offenbar nicht zuletzt, um ihre eigene Marke in den Vordergrund zu rücken. Die stärkere Rolle der Entwicklung quasi-kognitiver Eigenschaften von Automobilen, eine wichtige Voraussetzung von Fahrassistenzsystemen sowie heutiger (Vor-)Stufen autonomen Fahrens, hing von technischen Entwicklungssprüngen ab, vor allem von Halbleitersystemen. Aktiv beteiligt an Forschungen zur im weitesten Sinne künstlichen Intelligenz waren jedoch bemerkenswerterweise nicht nur Automobilkonzerne wie Daimler-Benz, sondern ebenso staatliche Akteure, etwa das US-amerikanische Militär (in Form der Rüstungsforschungsbehörde) oder Forschungsförderer wie die Deutsche Forschungsgemeinschaft. Dabei fallen spannende Kontinuitäten zur Geschichte des Internets und zum frühen 20. Jahrhundert auf, als bei fast allen relevanten Beratungen von Verkehrs- und Infrastrukturfragen das preußische Kriegsministerium mit am Tisch saß. Auch während der „Goldenen Ära“ nach 1945 war es offenbar das Militär, das über jenes entscheidungsprägende Konglomerat von vergleichsweise üppigen Finanzen, technischer Expertise und öffentlicher Bedeutungszuschreibung verfügte, das ihm einen aus heutiger (zumindest westeuropäischer) Sicht ungewöhnlichen Einfluss selbst in nicht-militärischen Fragen verlieh.

Der Staat taucht in den Beiträgen des Bandes nicht nur als Lenker und Treiber von Innovationen auf, sondern vor allem in seiner Rolle als regulierende und planende Instanz, wie etwa der Beitrag von Veit Damm deutlich macht. Der Autor demonstriert in seiner detaillierten Geschichte des Verkehrsfunks, wie dessen Entwicklung an technik-, medien- und konsumgeschichtlichen Voraussetzungen hing: Informationen für den Verkehrsfunk zusammenzutragen erforderte großen technischen und organisatorischen Aufwand und Kooperation unterschiedlicher staatlicher (Polizei) und privater Institutionen (ADAC). Verkehrsnachrichten im Radioprogramm privilegiert zu behandeln war vor Einführung spezieller Kennungstechnologien unmöglich, und die Suche nach dem jeweils passenden Regionalsender blieb für den Autofahrer eine mühselige Geduldsprobe. Außerdem war Verkehrsfunk, zumal in Form eines eigenen Senders, in Zeiten des exklusiv öffentlich-rechtlichen Rundfunks medial umstritten: Rundfunkvertreter und Journalisten fürchteten um die Zukunft des Programmradios, und der Deutschlandfunk als neue nationale Welle (seit 1962), die früh angefangen hatte, Verkehrsnachrichten zu senden, war oft schwierig zu empfangen. Und schließlich herrschte in der Politik Dissens, wie der Handlungsdruck aufzulösen sei, der sich nicht nur in Staus widerspiegelte, sondern auch in einem heute unvorstellbaren Blutzoll von mehr als 19.000 Verkehrstoten allein im Jahr 1970 (S. 174), von den Hunderttausenden an Verletzten und Schwerverletzten ganz zu schweigen: Liberal-konservative Politiker forderten Ausbau und Professionalisierung des Verkehrsfunks, um mit seiner Hilfe die Risiken individueller automobiler Mobilität aufzufangen, während Sozialdemokraten in ihrer Verkehrspolitik mehr auf die Förderung des öffentlichen Nahverkehrs setzten. Hinter diesen Debatten verbargen sich unterschiedliche gesellschaftliche Grundkonzepte, aber einen „schlanken Staat“ beförderte auch das liberal-konservative Konzept eher nicht. Vielmehr wuchs hier ebenfalls die Präsenz öffentlicher Ordnung, und sei es nur in Form von Informationstafeln zu dem Empfangsmöglichkeiten von Verkehrssendern. Nur setzte diese Ordnungsvorstellung auf weniger Kollektivität und weniger Verhaltenssteuerung durch rechtliche Sanktionen, stattdessen mehr auf die informierte Entscheidung des einzelnen Autofahrers und machte ihn zum Mittelpunkt der Betrachtung.

Mit solchen Beiträgen zeigt der Band, was eine moderne, Infrastrukturen untersuchende Technikgeschichte zu leisten vermag. Sie kann verdeutlichen, wie Ordnungsdenken, Konsumgewohnheiten, gesellschaftlicher Handlungsdruck und staatliche Innovationsimpulse technische Entwicklungen beförderten. Sie belegt aber zugleich, wie Entscheidungen und Handlungen von technischen Voraussetzungen abhängen und welche Potentiale technische Entwicklungen (etwa der Durchbruch zum digital geprägten Rundfunk) freisetzen können. Hier spielten – wie erwähnt – der Staat und die Automobilunternehmen eine wichtige Rolle, aber auch, wie die Autoren ebenfalls immer wieder hervorheben, Zulieferer wie Bosch und Radiogeräte-Hersteller wie Blaupunkt, die die Möglichkeiten technischen Handelns in einem komplexen Netzwerk konfigurierten. Lernprozesse in der von Technik und Automobilität geprägten westlichen Industriemoderne der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts verliefen offenbar in komplizierten Mischungsverhältnissen. Sie prägten Lebensvollzüge und Alltag zunehmend und vielleicht ähnlich stark wie einige hochpolitische Debatten, die oft eher im Mittelpunkt zeitgeschichtlicher Betrachtungen stehen. So ist dies ein nützlicher und stellenweise faszinierender Sammelband nicht nur für Mobilitätshistoriker:innen.

Anmerkungen:
1 Arne Andersen, Der Traum vom guten Leben. Alltags- und Konsumgeschichte vom Wirtschaftswunder bis heute, Frankfurt am Main 1997.
2 Bogner ist im Februar 2023 mit 95 Jahren verstorben.